09.02.2021
Rezension: Das Elend der Verschickungskinder – Kindererholungsheime als Orte der Gewalt, Psychosozial







Röhl, Anja : Das Elend der Verschickungskinder – Kindererholungsheime als Orte der Gewalt, Psychosozial - Verlag, Gießen 2021



Lange erwartet erschien nun das Buch,  nachdem eine Fernsehreportage zum Thema große Aufmerksamkeit bekommen hatte.

Da ich selbst – allerdings in der DDR – in den 60iger  Jahren zwei Mal zur Kur geschickt wurde, interessierte mich die Publikation von Anja Röhl sehr.
Von 1950 bis 1990 wurden in der alten Bundesrepublik zwischen acht und zwölf Millionen Kinder im Alter von zwei bis zehn Jahren ohne ihre Eltern aus den unterschiedlichsten Gründen zu meist sechswöchigen Erholungsaufenthalten von den Krankenkassen „verschickt“.
Die Kinder sollten sich in Kinderheilstätten und Kinderkurheimen erholen und genesen, sie sollten zu- oder später auch abnehmen. Die Heime befanden sich in landschaftlich schönen Gegenden, die Eltern meinten, ihren Kindern etwas Gutes zu ermöglichen.

Das Wissen über traumatisches Erleben bei abrupter und vor allem für das Kind nicht einsehbarer Trennung  war längst nicht so verbreitet wie heute.
Und nur so ist es vielleicht auch zu erklären, dass Eltern ihren Kindern die Erzählungen nach deren Rückkehr oft nicht glaubten oder sich Wesensveränderungen der Kinder nicht erklären konnten. Denn dass viele Kinder neben der Trennung noch schreckliche institutionelle – auch von den Jugendämtern als Fachaufsicht mitverantwortete – Gewalt erlebten, kann nach Veröffentlichung dieses Buches niemand mehr leugnen. Der Forschungsbedarf liegt auf der Hand.

 

Es bleibt zu klären, ob es sich um ein Massenphänomen handelte, ob Muster zu erkennen sind, welche Bedingungen Menschenrechtsverletzungen und Straftaten begünstigten und warum diese so lange ungeahndet blieben. Wer hatte ein Interesse an Vertuschungen und wer verdiente an den „Verschickungen“? Wer waren die Menschen, die kleine Kinder zum Teil sadistisch quälten, wie wurden sie sozialisiert, welche Vergangenheit hatten sie?


Anja Röhl, Sonderpädagogin und selbst Betroffene, hat akribisch recherchiert. Umfangreiches Datenmaterial bildet die Grundlage der kritischen Annäherung an den Begriff und den historischen Hintergrund der „Verschickungen“

Im ersten Teil ihres Buches stellt die Autorin exakt die Geschichte der Kindererholung in acht Kurorten dar, beschreibt die Einrichtungen und fügt dann persönliche Erinnerungen aus den Schreiben und Interviews ehemaliger Verschickungskinder an. Diese Zeitzeugnisse gehören für mich zu den berührendsten  Passagen des Buches. Wie konnte es zu so einem Klima von Angst und Gewalt kommen?

Anja Röhl arbeitet im weiteren Verlauf des Buches die Ursachenstränge :biografische Prägung in der Kindheit, in der NS – Schwesternschaft und im Pflegeberuf, die strafende Pädagogik, die „Totale Institution“ nach Goffmann, NS – Geschichte in der Kinderheilkunde, balneologische Klimaheilkunde, medizinische Forschungen (vgl. auch Wagner, Sylvia : Arzneimittelversuche an Heimkindern zwischen 1949 und 1975, Mabuse – Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2020, in: heilpaedagogik.de 1/2021 online), Ökonomie / Rendite und Sadismus heraus.


Dieses System der „Verschickung“ bestand flächendeckend. Fünfzig Jahre gab es dazu keine Forschung. Erst durch Öffnung von Akten und Archiven kann es zu einer Aufklärung der massiven Verstöße gegen das Kindeswohl kommen und den Betroffenen geholfen werden. Nach der Lektüre habe ich vorsichtig im Freundeskreis nachgefragt.


Die erste Antwort war: „1963 war ich in X. Und es war die Hölle“



Sybille Lenk


www.verschickungsheime.de