01.09.2021
Buchvorstellung - Ettl, Thomas : Die anorektische Logik – Psychodynamik, Genese und Behandlung der Magersucht







Um es vorweg zu sagen: Wer je mit esskranken Menschen beruflich in Kontakt war, wird das Buch mit Gewinn lesen. Und zwar unabhängig davon, ob er eine psychoanalytische Ausbildung hat oder nicht.

Egon Schieles Mädchenakt mit verschränkten Armen aus dem Jahr 1910 als Umschlagabbildung vermittelt eine Ahnung davon, wie sehr der Text beeindrucken wird.

Nach einem kurzen Vorwort zur Neuauflage des bereits 2018 im Selbstverlag erschienenen Buches führt Thomas Ettl ausführlich in die Thematik ein und erklärt, inwiefern die ätiologischen Wurzeln der Essstörung in einer pathogenen Kindheit liegen. Dabei wird das Hungern zur Kontrollstrategie, um eine traumatische Vorgeschichte abzuwehren.

Besonders gut nachvollziehbar wird dies in der Auseinandersetzung mit den inzwischen abgeschalteten Seiten der Pro Ana – Bewegung im Internet. Diese nutzte die Sehnsucht des früh beschädigten Selbsts von Betroffenen nach Zugehörigkeit und Wertschätzung mit seiner Regel Nummer 1: WIR HABEN KEINEN HUNGER gnadenlos aus und trieb die Kranken weiter in die Selbstverletzung, nicht selten in den Tod.

Da das Hungern narzisstischen Gewinn verspricht, darf es nicht aufgegeben werden und macht in der Folge die Behandlung so schwierig.

An die Einführung schließt der Autor die Kapitel „Die anorektische Logik“ I –IV an.

Hier wird anhand zweier Fallbeispiele aus der Literatur, nämlich der Lebensgeschichten von Lilli und Caro sehr gut erklärt, warum sich das Selbst von Esskranken in keinem kohärenten und konsolidierten, sondern in einem dissoziativen Zustand befindet.

In diesem Zusammenhang werden u.a. die gestörte Mutter – Kind – Dyade, die Vaterdeprivation, unbearbeitete intrusive Ereignisse in der Kindheit, die Muttermorphophobie und die transgene rationale Weitergabe von Traumatisierungen intensiv beleuchtet.

Die letzten hundert Seiten widmet der erfahrene Diplom–Psychologe Thomas Ettel der psychoanalytischen Behandlung esskranker Patienten.

Symptom fokussierende und analytisch orientierte Verfahren werden verständlich erklärt. Ettl kommt auf die vorher angeführten Beispiele von Lilli und Caro zu sprechen und stellt dar, wie hier eine Behandlung hätte verlaufen können.

Mögliche Fallen, in die die Analytikerin oder der Analytiker tappen könnten, werden beschrieben und unterstützen den Lerneffekt beim Leser.

Die für die Behandlung von Traumatisierten typische Identitätsverwirrung von Übertragung und Gegenübertragung gilt es sorgfältig zu beachten.

Ettl behandelt in seiner Praxis Esskranke mit fortschreitender, aber noch nicht kritischer Gewichtsabnahme, die bereits einen Klinikaufenthalt hinter sich haben.

Die Erläuterung des Behandlungsprozesses ist beeindruckend in seiner Differenziertheit und geprägt durch wohltuende Demut angesichts der oft eingeschränkten Möglichkeiten des Helfens.


Sybille Lenk